Aus Kants ,,Kritik der Urteilskraft`` (KU) zitiert Kutschera die Abschnitte 6, 8, 32 und 56 - 58. Ich werde sie hier zusammenfassen, um dann Kutscheras Interpretation zu beurteilen.
In den ersten fünf Abschnitten der KU führt Kant drei Arten des Wohlgefallens ein: das Angenehme ist das, was einen vergnügt, das Schöne gefällt einem und das Gute schätzt oder billigt man. Daher können auch Tiere das Annehmliche schätzen, aber nur Menschen das Schöne wahrnehmen, und jedes vernünftige Wesen kennt das Gute. Nur das Schöne ist interesselos. Im §6, ,,Das Schöne ist das, was ohne Begriffe, als Objekt eines allgemeinen Wohlgefallens vorgestellt wird``, überträgt Kant dann dieses Wohlgefallen auf alle Menschen. Wenn ich etwas schön finde, es ohne Nebengedanken bewundere, dann müssen es auch alle anderen Menschen bewundern. Daher wird Schönheit als eine Eigenschaft des Gegenstands und das Urteil als logisch angesehen, obwohl es nur ein ästhetisches Urteil ist. Es kann aber nicht logisch sein, weil es nicht aufgrund von Begriffen entstanden ist, denn Lust kann nicht aus Begriffen entstehen. Ein interesseloses Urteil hat den Anspruch auf subjektive Allgemeinheit.
Bei angenehmen Dingen hat jeder seinen eigenen Geschmack, denn diese sind auch mit Interesse verbunden. Zwar gibt es Übereinstimmungen, aber diese können keine universellen Regeln hervorbringen wie ästhetische Urteile. Hätte man nicht den Anspruch der Allgemeingültigkeit bei ästhetischen Urteilen, so würde man alles Schöne zum Angenehmen zählen. Der Sinnengeschmack ist der, welcher über Angenehmes urteilt, der Reflexionsgeschmack ist für ästhetische Urteile zuständig. Beim Sinnengeschmack hat man nicht den Anspruch, allgemeingültige Urteile zu treffen, da es häufig Einwände gibt. Beim Reflexionsgeschmack gibt es auch Einsprüche von anderen, aber hier will man trotzdem allgemeingültig über Schönes urteilen. Basierend auf den nicht-logischen, weil nicht auf Begriffen aufsetzenden Urteilen kann man logische Urteile fällen - wenn ich eine Rose schön finde, so werden Rosen im allgemeinen auch schön sein. Ästhetische Urteile können nicht auf Begriffen fußen, weil dann jede Vorstellung der Schönheit verschwindet. Deshalb kann man sich auch nicht von ästhetischen Urteilen überzeugen lassen, weil dafür eben Begriffe notwendig sind.
Im weiteren erläutert Kant, warum das schön ist, was ,,ohne Begriff allgemein gefällt``4, und dass Schönheit Zweckmäßigkeit ohne Vorstellung eines Zwecks ist. Weiterhin ist schön das, ,,was ohne Begriff eines notwendigen Wohlgefallens erkannt wird``5. Im zweiten Buch der KU befasst er sich mit dem Erhabenen. Im Gegensatz zum Schönen, welches sich mit der Vorstellung der Qualität befasst, ist das Erhabene mit der Vorstellung der Quantität verbunden. Schönheit ist in der Natur zu finden, Erhabenheit aber weniger in der Natur, als vielmehr in Ideen und in Gedanken angeregt von der Natur. Im Abschnitt ,,Deduktion der reinen ästhetischen Urteile`` vertritt Kant die Ansicht, dass die Deduktion ästhetische Urteile nicht für das Erhabene, sondern nur für das Schöne gilt. Im §32, ,,Erste Eigentümlichkeit des Geschmacksurteils``, diskutiert Kant, inwieweit die ästhetischen Urteile a priori getroffen werden. Die Schönheit ist keine Eigenschaft der Dinge selbst, und ästhetische Urteile werden auch nicht aufgrund von Begriffen getroffen, aber für ästhetische Urteile a priori braucht man auch keine Begriffe.
Durch Übung und Erfahrung wird der Geschmack verbessert, aber er sollte sich nie von der Meinung anderer bestimmen lassen. Auch wenn es scheinen mag, dass Geschmacksurteile a posteriori entstehen, so gibt es in der Geschichte immer Vorgänger, und ohne Vorgänger müsste man quasi das Rad immer neu erfinden. Der Geschmack braucht die Vorgänger, um bessere Urteile fällen zu können. Im weiteren erläutert Kant, dass der Geschmack das subjektivste Prinzip der Urteilskraft ist, und schreibt über die Kunst und das Genie. In ,,Die Dialektik der ästhetischen Urteilskraft`` stellt er zunächst dar, wie eine Dialektik der Geschmacksurteile aussehen könnte: ,, wenn sich eine Antinomie der Prinzipien dieses Vermögens findet, welche die Gesetzmöglichkeiten desselben, mithin auch seine innere Möglichkeit, zweifelhaft macht``6.
Im §56, ,,Vorstellung der Antinomie des Geschmacks``, entlarvt Kant das Sprichwort ,,Über Geschmack lässt sich nicht streiten`` als Ausrede der Geschmacklosen. Allerdings macht er einen feinen Unterschied zwischen ,,streiten`` und ,,disputieren``: bei beiden versucht man, durch Argumente ein einstimmiges Urteil hervorzubringen. Bei Letzterem nimmt man aber objektive Begriffe als Gründe für das Urteil an. Also lässt sich über Geschmack zwar streiten, aber nicht disputieren. Die Antinomie lautet also: 1. Über Geschmack lässt sich nicht disputieren, denn er beruht nicht auf Begriffen. 2. Geschmack muss auf Begriffen beruhen, denn sonst könnte man nicht einmal darüber streiten. Dieser Widerspruch kann aufgelöst werden durch die Tatsache, dass das Wort Begriff in den beiden Sätzen anders verwendet wird. Natürlich müssen sich Geschmacksurteile auf einen Begriff beziehen, aber sie dürfen nicht aus einem Begriff heraus entstehen. Die erste Verwendung von Begriff nennt Kant Verstandesbegriff, der sich auf die sinnliche Welt bezieht, den zweiten nennt er Vernunftbegriff, der sich mit dem ,,Übersinnlichen``7beschäftigt. Wenn sich ein Geschmacksurteil also auf Sinnliches bezieht, ist es ein Privaturteil und kein Erkenntnisurteil. Im Geschmacksurteil ist aber immer auch eine Vorstellung des Objekts enthalten, und darum bezieht es sich auch auf den Vernunftbegriff. Der Widerspruch löst sich also auf, weil das Geschmacksurteil sich auf einen Begriff stützt, der wenig mit dem Gegenstand zu tun hat, weil er unbestimmbar ist, der aber allgemeingültig ist, weil die Menschheit diesen Begriff teilt.
Man kann allerdings kein allgemeines, objektives Prinzip des Geschmacks angeben, denn das wäre kein Geschmacksurteil mehr. Da aber alle Menschen die ,,unbestimmte Idee des Übersinnlichen``8 teilen, kann dieses als das subjektive Prinzip von ästhetischen Urteilen gelten. Würde man als Grundlage von Geschmack das Angenehme oder das Vollkommene nehmen, so ließe sich die Antinomie nicht auflösen.
Das Prinzip des Geschmacks kann entweder empirisch (a posteriori) oder rationalistisch (a priori) sein - im ersten Fall wäre das Schöne dem Angenehmen gleichzusetzen, im zweiten dem Guten. Da der Geschmack aber a priori gilt, muss das Prinzip also rationalistisch sein. Hier kann es entweder dem Realismus der Zweckmäßigkeit oder dem Idealismus unterstehen. Diese Zweckmäßigkeit ist nie objektiv, sondern ästhetisch. Ist sie aber absichtlich entstanden, gilt der Realismus, ansonsten der Idealismus. Für den Realismus sprechen die Gestalten der Pflanzenwelt, die z.T. für den Zweck unnötige, aber ästhetisch ansprechende Qualitäten haben. Auch die Bildung von Schneeflocken und andere natürliche Prozesse sind ästhetisch ansprechend, aber meist für den Zweck unnütz. Trotzdem ist der Idealismus das Prinzip des Schönen, weil wir nur sonst durch die Betrachtung der Natur lernen könnten, was schön ist, also empirisch urteilen würden. Auch wäre dann das Schöne der Natur zweckmäßig, weil wir es schön finden können. Noch deutlicher ist dieses Prinzip in der Kunst zu sehen, weil Kunst, die geschaffen wurde, um zu gefallen, bloß angenehm und nicht schön ist.
Kutschera betont, dass für Kant ästhetische Urteile nicht objektiv, sondern intersubjektiv gelten, und dass dies aufgrund von allen Menschen geteilten Erkenntniskräften gilt. Er verschweigt jedoch, dass für Kant auch die Interesselosigkeit für ästhetische Urteile sehr wichtig ist. Wenn ich etwas ohne Nebengedanken, also ohne eigene Interessen zu vertreten, als schön empfinde, so kann ich dies als allgemeingültig ansehen, weil eben meine subjektiven Empfindungen nicht am Urteil beteiligt sind.
Zur Antinomie des Geschmacks sagt Kutschera nicht viel, obwohl diese für Kant eine Dialektik des Ästhetischen begründet. Die beiden Arten von Begriffen, die als etwas spitzfindig erscheinen mögen, erinnern an Ogden und Richards, aber da hat Kutschera sie verurteilt. Hier werden der Vernunft- und der Verstandesbegriff aber verwendet, um die subjektive Natur ästhetischer Urteile objektiv verbindlich zu machen.
Kutschera bezeichnet Kants Vorstellung, dass wir den Dingen Schönheit im Rahmen unsere ästhetischen Erfahrung zuschreiben, als merkwürdig. Für einen Vertreter des ästhetischen Objektivismus mag das tatsächlich merkwürdig sein, aber Kant wird als Subjektivist zitiert. Kutscheras größte Kritik stützt sich aber darauf, dass Kant den Subjektivismus quasi abgeschrieben habe und keine überzeugenden Argumente bringe. Vielleicht mag die Idee, dass alle Menschen gewisse Ideen teilen und deshalb der kollektive Subjektivismus gilt, tatsächlich wenig überzeugend dargestellt worden sein, aber Kutschera wird hoffentlich nicht bezweifeln, dass wir Menschen uns in unserem Denken und Fühlen ähnlich sind, zumindest alle dieselben Anlagen haben. Wenn man fest von einer Meinung überzeugt ist, ist es leicht zu sagen, dass die Argumente der Gegenseite nicht überzeugend sind.